Sonntag, 23. Februar 2014

Sonntagsthema: Die Grenzen des eigenen Wachstums




Sie kassieren hohe Abfindungen, wenn sie stürzen – aber vorher haben sie vielleicht Zehntausende von Mitarbeitern in die Freiheit entlassen, die jetzt ihre Existenz auf die Arbeitslosenunterstützung setzen müssen. Sie erhalten nach einer gewissen Auszeit erneut Angebote in höchste Führungsetagen, wo sie erneut ein Job erwartet, der sie zum Herren über Zehntausende oder Hunderttausende von Existenzen macht. Sie setzen sich erneut einem Druck seitens Investoren, Konzernleitung, Medien, Internet, Öffentlichkeit aus, dem das Risiko zu scheitern und zu zerbrechen immanent ist. Sie sind ziemlich allein da oben an der Spitze – die Luft ist dünn und ungesund. Sie haben wenige Menschen, mit denen sie über diesen ungeheuren Druck sprechen könnten – im Idealfall der Lebenspartner, der beste Freund aus dem Studium, mit dem man immer noch (sehr selten) Squash oder Golf spielt, vielleicht auch ein Mentor, der den Weg nach oben geebnet hat (wenn dieser nicht bereits selbst längst ausgebootet ist) oder der engste Mitarbeiter (Aber darf man ihn ins Vertrauen ziehen ? Er könnte ja an der Leiter sägen)

Wie hält man das aus? Wie überlebt man das mental, spirituell, psychisch und physisch?

Vielleicht indem man frühzeitig der Angst Ausdruck verleiht? Das Gefühl der emotionalen Überforderung und physischen Überlastung, der mentalen Erschöpfung und der fundamentalen Ernüchterung öffentlich macht? Sich traut menschlich zu erscheinen? - All dies machte sich in einem Interview mit Carsten Schloter, dem ehemaligen Swisscom-Chef, 2013 mit einem einzigen Satz Luft: Ganz unvermittelt bekannte er plötzlich, Schuldgefühle zu haben, weil er seit seiner Trennung seine drei kleinen Kinder kaum noch sehen könne. Er ließ erkennen, dass er es als Scheitern empfand. Einige Monate später beging er Selbstmord, so wie nach ihm führende Manager von Zürich Versicherung, Deutsche Bank und J.P. Morgan.

Worin besteht der Konflikt?

Führende Manager in börsennotierten Unternehmen, Finanzinstituten oder global agierenden Institutionen müssen sich heute mehr denn je nicht nur ökonomischen Entscheidungen, sondern auch den moralischen Tragweiten stellen. Und einem gewaltigen Sturmangriff aus unterschiedlichsten Haubitzen, der ihr Handeln bis ins Kleinste analysiert und zerhäckselt und ihnen stetige Rechtfertigung abverlangt. Früher - auf dem Weg zur Spitze - gab es immer noch einen über ihnen, den sie hätten fragen können, wenn sie Ratlosigkeit übermannte oder das Bedürfnis nach gemeinsamer Lösungsfindung. Heute ist da niemand mehr. Sie sind die Bergspitze, die Antenne oben auf dem Mount Everest, über der nur noch der Himmel kommt. Funkt sie falsch, öffnet der Himmel seine Schleusen respektive das Internet den Shitstorm, die Investoren rotten sich gegen ihn zusammen und der Boden unter seinen Füßen droht einzusacken.

Aushalten können und Verzicht üben

Alles auf einmal - Top-Karriere, Macht, Familie, Privatleben, soziales Miteinander, ganz bei sich sein - geht offenbar nicht. Verzicht ist angesagt. Manchmal trifft dieser Verzicht ins Herz. Denn auch Top-Manager sind Menschen, auch als Radarstation auf dem schmalen Gebirgsgrat zwischen ökonomischem Handeln und moralischer Abwägung – wir haben sie nur aus den Augen verloren – und sie sind wie wir alle gegen Schwäche, Anfechtung, Verdrängung, Angst vor Scheitern nicht gefeit.

Schwächen nicht negieren

Hätte Carsten Schloter früher Schwäche zugegeben, hätte man ihm das verziehen? Im Grunde war es ein Zeichen von Stärke, die Schwäche zuzugeben. Wie beinahe überall ist es eine Frage von Stil, Verhältnismäßigkeit und Haltung. Natürlich auch der Fallhöhe. Aber Francois Mitterand hatte zwei Familien und machte daraus nicht das geringste Geheimnis. Dem Respekt und der Verehrung in seinem Lande tat dies keinen Abbruch. Juste au contraire! Einer seiner Nachfolger im Amt tut es verschämt und steht nicht dazu – rückt damit in die Nähe der komischen Figur aus der Commedia del arte – das wird als dégoutant empfunden, selbst in einem Land, in dem Staatspräsidenten sich in der Nachfolge von Versailles wähnen. 

Führungskräfte – Politiker wie Wirtschaftler, Banker wie Staatenlenker – dürfen sich bei Blößen, Schwächen und Fehltritten nicht einfach nur erwischen lassen – sie müssen sie selbst verbalisieren! Kein dreistes Ehrenwort, bei dem hinter dem Rücken zwei Finger gekreuzt werden, kein Beharren auf einer sauberen Doktorarbeit, obwohl die Realität längst dagegen spricht, kein Tugendmann-Gehabe, wenn die Affäre bereits Fakt ist – Schwächen sind nicht nur menschlich, sondern für die psychische und moralische Hygiene existenziell. Ein reinigendes Regulans. 

Le style c'est l'homme
Dann können Schwächen zu Stärken mutieren, zumindest zu charmanten und akzeptablen Notwendigkeiten, zu lässlichen Sünden. Das weckt einerseits Verständnis, läutet andererseits vielleicht Umdenken und Umkehr ein. Vor allem kann es dazu beitragen, das Gesicht zu wahren und den Fall abzubremsen. Kein Job der Welt ist es wert, dass man den Boden unter den Füßen verliert. Weder physisch, psychisch, moralisch, existenziell.

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